Pressemitteilung 09 vom 18.03.2022
Immer mehr Massenverfahren am Landgericht München I
Immer wieder sind sogenannte „Massenverfahren“ Thema in Justiz und Medien.
Diese Verfahren zeichnen sich dadurch aus, dass viele Kläger gegen die identischen oder aus der gleichen Sparte stammenden Beklagten im Wesentlichen gleiche Ansprüche geltend machen. Bisher muss jedes einzelne dieser Verfah-ren jeweils gerichtlich geprüft, verhandelt und entschieden werden.
Auch Bayerns größtes Landgericht hat eine Vielzahl solcher Verfahrenskomplexe.
Neben den sog. Diesel-Verfahren, die bundesweit viele Gerichte beschäftigen und von denen das Landgericht München I mehrere tausend Klagen zu bewältigen hatte, kommen beim Landgericht München I als Großstadtgericht weitere Verfahrenskomplexe hinzu:
Bereits vielfach mündlich verhandelt wurde das sog. Lkw-Kartell. Inzwischen sind ca. 150 Verfahren am Landgericht München I eingegangen, teilweise mit ganz er-heblichem Umfang. Insgesamt fordern hier bei uns ca. 10.000 Geschädigte im Hinblick auf über 250.000 von ihnen erworbene Lkws Schadenersatz.
In jüngster Vergangenheit gab es am Landgericht München I des Weiteren über 200 Verfahren von Gastronomiebetrieben, Hotels und Freizeiteinrichtungen, die ihre Betriebsschließungsversicherung auf Zahlung der Schadenssumme im Zusammenhang mit der staatlichen Schließung von Gastronomie, Beherbergungs- und Freizeitbetrieben aufgrund der Corona-Pandemie verklagt haben. Hiervon haben allein 15 Verfahren, welche in München bekannte Gastronomie betreffen, eine gerundete Streitwertsumme von 13.630.000.- Euro. Die „Spannweite“ der Einzel-streitwerte liegt dabei zwischen 66.000.- Euro und 6.200.000.- Euro.
Zudem haben viele Betroffene am Landgericht München I Klage gegen den TÜV-Süd wegen des Bruchs eines Staudamms in der brasilianischen Gemeinde Brumadinho eingereicht. Derzeit sind ca. 35 Verfahren hierzu eingegangen. Hier klagen Opferangehörige und Betroffene, die beim Bruch des Staudamms einer Eisenerzmiene im Januar 2019 zu Schaden gekommen sind auf Schadenersatz.
Außerdem lässt sich feststellen, dass der Verfahrenskomplex Wirecard nicht nur die Strafrichterinnen und -richter intensiv beschäftigt, sondern auch im Zivilrecht zu hunderten von zusätzlichen Verfahrenseingängen führt. Am Landgericht München I sind hier etwa 900 Klagen einzelner Anleger gegen die Wirtschaftsprüferin (E&Y) anhängig. Die Zahl steigt fast täglich weiter an.
Einige der hier genannten Verfahren sind für sich genommen wiederum Großverfahren:
So hat z.B. im Bereich „LKW-Kartell“ im Verfahren 37 O 18602/17 eine Tochtergesellschaft der DB AG als Inkassodienstleisterin Ansprüche von 25 konzerneigenen Gesellschaften der DB AG sowie Ansprüche von 144 konzernfremden Unterneh-men mit Sitz in der EU bzw. dem EWG zur gemeinsamen Klage gebündelt. Insge-samt geht es in diesem Fall um Schadensersatz in Höhe von ca. 385 Mio. EUR aus dem Erwerb von knapp 39.000 Lkw.Im Komplex „Staudammbruch bei Brumadinho“ wurde in einem bereits verhandel-ten Großverfahren im Januar 2022 eine umfangreiche Klageerweiterung um über 1000 Kläger vorgenommen (28 O 14821/19).Und im Bereich „Wirecard“ gibt es weitere Klagen des Insolvenzverwalters gegen die Wirecard AG, wie beispielsweise das extrem komplexe Verfahren in der 5. Kam-mer für Handelssachen, welches im Dezember 2021 verhandelt wurde (5 HK O 15710/20). Im Wesentlichen geht es hier um die Nichtigkeit der beiden Jahresab-schlüsse der Wirecard AG aus den Jahren 2017 und 2018 sowie der darauf auf-bauenden Gewinnverwendungsbeschlüsse.
Das Gericht wird durch den Eingang derartiger Klagewellen spürbar belastet. So kann anhand der Zahlen einer allgemeinen Zivilkammer gesehen werden, dass ca. 20% der im Jahr 2020 eingegangenen Verfahren dem sogenannten Dieselskandal zuzuordnen waren.
Diese Verfahren führen zu einem Mehrarbeitsaufwand in allen Bereichen der Justiz: bei den Eingangsstellen, Wachtmeistereien, Geschäftsstellen, im Rechtspfleger- und Richterdienst.
Bei einzelnen Verfahrenskomplexen hat das Landgericht individuelle Lösungen gesucht und gefunden. So wurde z.B. für den Komplex LKW-Kartell ab dem Jahr 2018 eine Vielzahl von organisatorischen Maßnahmen getroffen:
Der Eingang der teilweise sehr umfangreichen Verfahren musste in der Einlaufstelle bewältigt werden, die Lagerung und der Transport hunderter Kisten von Akten wurde von der Hausspitze organisiert, ebenso wie größere Sitzungssäle für die mündliche Verhandlung sowie der elektronische Versand von Anlagen zwischen den Verfahrensbeteiligten.
Zudem gründete das Präsidium des Landgerichts München I bereits am 2. Mai 2019 zur Entlastung der Kartellkammer mit Unterstützung der hilfsbereiten Kolleginnen und Kollegen aus der Richterschaft eine neue Zivilkammer, die aus vier Vorsitzenden der Kammern für Handelssachen gebildet wurde. Die Kolleginnen und Kollgen hatten sich freiwillig gemeldet, um die Kartellkammer zu unterstützen. Sie übernahmen in die neu gegründeten 39. Zivilkammer die UWG-Verfahren, damit die 37. Zivilkammer sich ganz auf das Lkw-Kartell konzentrieren konnte.
Darüber hinaus gab es für die 37. Zivilkammer eine personelle Aufstockung um ein Viertel Arbeitskraftanteil zusätzlich.
Das Landgericht München I hat aber auch nach generellen Lösungsmöglichkeiten gesucht, um der Besonderheit der Massenverfahren Rechnung zu tragen. Damit soll nicht nur sichergestellt werden, dass Masseverfahren adäquat, aber auch effektiv bearbeitet werden. Gewährleistet werden soll dadurch gerade auch, dass die Justiz für alle andere Verfahren jederzeit ausreichende Kapazitäten hat, um jeden vor-gebrachten Streit in angemessener Zeit zu entscheiden.
Landgerichtspräsidentin Dr. Beatrix Schobel:
„Wir haben hier inzwischen reagiert und zur Bearbeitung der Massenverfahren zahlreiche Maßnahmen ergriffen. Unter anderem habe ich zu Beginn meiner Amtszeit die Verwaltungsaufgabe des Koordinators für Massenverfahren bei uns am Landgericht München I eingeführt. Durch unseren Koordinator, Herrn Dr. Tobias Ulrich, ist es uns möglich den Überblick zu behalten und die mit den Verfahrenskomplexen be-trauten Richterinnen und Richter miteinander zu vernetzen. Hierdurch entstehen viele Synergieeffekte. Auch dank des überobligatorischen Einsatzes der Kolleginnen und Kollegen können diese Verfahren bei uns am Landgericht München I zeitnah bear-beitet werden.
Ich sehe jedoch vor allem auch den Gesetzgeber in der Pflicht: Ein Vorlageverfahren zum BGH zur Beantwortung der maßgeblichen abstrakten Rechtsfragen wäre hier ein wichtiger Schritt in die richtige Richtung. Es ist sehr ernsthaft zu diskutieren, ob hier eine Aussetzungsmöglichkeit von Parallelverfahren bis zur rechtskräftigen Entscheidung über ein Pilotverfahren zielführend sein könnte. Die Aussetzung von individuellen Klagen einzelner Verbraucher bis zum Abschluss einer Muster- oder Verbandsklage oder bis zu einer höchstrichterlichen Entscheidung in parallelen Rechtsstreitigkeiten sollte der Praxis schnell ermöglicht werden. Es braucht mehr Flexibilität im Zivilprozessrecht, um die Massenverfahren noch besser in den Griff zu bekommen.“
Verfasserin der Pressemitteilung:Vorsitzende Richterin am Landgericht München I Cornelia Kallert – Pressesprecherin -