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Pressemitteilung 10 vom 05.09.2024

„Urteil im Organhaftungsverfahren Wirecard“

Die auf aktienrechtliche Fragestellungen spezialisierte 5. Kammer für Handelssachen unter dem Vorsitz von Dr. Helmut Krenek hat heute der Klage des Insolvenzverwalters auf Zahlung von Schadensersatz gegen drei ehemalige Vorstandsmitglieder der Wirecard AG in Höhe von € 140 Mio. nebst Zinsen in Höhe von 5 Prozentpunkten seit Rechtshängigkeit stattgegeben (Az.: 5 HK O 17452/21); die ehemaligen Vorstandsmitglieder haften als Gesamtschuldner. Die Klage gegen ein ehemaliges Aufsichtsratsmitglied hat die Kammer dagegen abgewiesen. 

Zum Verfahren:

Der in diesem Zivilverfahren klagende Insolvenzverwalter wirft den Beklagten vor, sie hätten ihre Pflichten als Vorstands- bzw. Aufsichtsratsmitglied bei unternehmerischen Entscheidungen verletzt. Konkret sei dies – laut Kläger - im Zusammenhang mit der Vergabe eines unbesicherten Darlehens über € 100 Mio. durch eine Tochtergesellschaft der Wirecard AG aus Mitteln der Wirecard AG an die oCap Management Pte Ltd. (OCAP) sowie der auf Weisung der Wirecard AG erfolgten Zeichnung einer Schuldverschreibung über € 100 Mio. durch eine Tochtergesellschaft geschehen. Die Beklagten gehen davon aus, ihre Pflichten nicht, jedenfalls nicht schuldhaft verletzt zu haben. Die Entscheidungen seien durch das Unternehmensinteresse gerechtfertigt gewesen.

 

Die Kammer hatte über die Klage am 22.02.2024 mündlich verhandelt (siehe Pressemitteilung 03/2024 vom 22.02.2024).

Zum heute ergangenen Urteil:

1. Aufgrund von § 93 Abs. 1 Satz 1 AktG haben die Vorstandsmitglieder bei ihrer Geschäftsführung die Sorgfalt eines ordentlichen Kaufmanns anzuwenden. Vorstandsmitglieder, die ihre Pflichten verletzen, sind der Gesellschaft gem. § 93 Abs. 2 Satz 1 AktG zum Ersatz des daraus entstehenden Schadens als Gesamtschuldner verpflichtet.

 

2. Die Kammer bejahte eine jeweils jedenfalls fahrlässig begangene Pflichtverletzung aller drei Vorstandsmitglieder wegen der Vergabe eines Darlehens in Höhe von € 100 Mio., das nach dem Vertragsinhalt dem Aufbau eines MCA-Geschäfts in Asien dienen sollte. Beim Merchant Cash Advanced-Geschäft (MCA) im engeren Sinn, um das es hier geht, erhält der Händler eine Art Betriebsmittelkredit, der dadurch zurückgezahlt wird, dass von den künftig abgewickelten Kredikartenzahlungen Anteile sukzessive einbehalten werden.

 

Die zum Schadensersatz führende Pflichtverletzung sah die Kammer darin, dass dieses Darlehen nicht besichert wurde. Eine ungesicherte Kreditvergabe an einen finanzschwachen Vertragspartner wertete die Kammer als unvertretbares Risiko und als gegen die Sorgfaltspflicht eines ordentlichen Geschäftsmanns verstoßend. Dies beruht vor allem auf in der Vergangenheit bei einem anderen Darlehen aufgelaufene Rückstände von € 2,375 Mio. sowie der Tatsache, dass infolge der vom Aufsichtsrat beauftragen Sonderprüfung durch KPMG unsicher war, ob mit dem Darlehen in engem Zusammenhang stehende Third Party Acquiring-Geschäft tatsächlich existierte. Hierfür waren angesichts des gerade auch von den Beklagten betonten strategischen Charakters des Darlehens sowohl der Vorstandsvorsitzende als auch der Finanzvorstand nach der internen Geschäftsverteilung des Vorstands der Wirecard AG unmittelbar ressortverantwortlich. Die Produktvorständin traf zwar keine unmittelbare Ressortverantwortung; jedoch hatte sie Anhaltspunkte für eine nicht ordnungsgemäße Geschäftsführung insbesondere durch ein flüchtiges weiteres ehemaliges Vorstandsmitglied haben musste, nachdem in der Vergangenheit ein Darlehen ohne den erforderlichen vorherigen Zustimmungsbeschluss des Aufsichtsrates ausbezahlt worden war. Die Vorstandsmitglieder konnten sich nach Auffassung der Kammer auch nicht darauf berufen, es habe im Zusammenhang mit einem früheren Darlehen keine Hinweise auf fehlende Liquidität der Darlehensnehmerin gegeben. Den Vorstandsmitgliedern lagen keine hinreichenden Unterlagen zur Prüfung der Kapitaldienstfähigkeit vor. Andere Unterlagen in Bezug auf die Liquidität hatten immer nur im Jahr 2018 ausgereichte Darlehen über einen Gesamtumfang von € 115 Mio. zum Gegenstand.

 

Da auf dieses Darlehen ein Betrag von € 60 Mio. aus der Zeichnung einer Schuldverschreibung getilgt wurde, entstand der Wirecard AG aus diesem Komplex ein Schaden in Höhe von € 40 Mio., nachdem die Darlehensnehmerin insolvent ist und keine Zahlungen zu erwarten sind. Rückzahlungen auf andere Kredite sind nicht geeignet, den Schaden zu verringern.  

 

3. Im Zusammenhang mit der Zeichnung von Schuldverschreibungen nahm die Kammer eine zu einem Schaden in Höhe von € 100 Mio. führende fahrlässig begangene Pflichtverletzung an, weil die Vorstandsmitglieder vor der Zeichnung entgegen anwaltlichem Rat eine Financial Due Diligence zur Überprüfung der Werthaltigkeit und Existenz der verbrieften Forderungen sowie der Solvenz des Sicherungsgebers unterließen. Um dies beurteilen zu können, wäre indes die Durchführung einer Financial Due Diligence durch den damaligen Vorstand der Schuldnerin, die die Gelder für den Erwerb der verbrieften Forderung zur Verfügung gestellt hat, erforderlich gewesen, um dem objektivierten branchenüblichen Standard zu genügen. Die Pflichtverletzung ließ sich nicht mit dem Argument verneinen, der mandatierte Rechtsanwalt hätte erklärt, aus rechtlicher Hinsicht gebe es keine „Dealbreaker“, weil dieser Hinweis die Prüfung der Existenz und Werthaltigkeit der Forderungen sowie der Solvenz eines Sicherungsgebers gerade nicht betreffe. Auch andere vorliegende Unterlagen gaben keine verlässlichen Informationen hierzu.

 

Da es keinen Rückfluss aus diesen Schuldverschreibungen an die Wirecard AG gab und wegen Insolvenz des Emittenten der Schuldverschreibung, dem die Wirecard AG die Mittel für die Zeichnung zur Verfügung gestellt hatte, bejahte die Kammer einen Schaden in voller Höhe.

 

4. Die Klage gegen das Mitglied des Aufsichtsrats wurde dagegen abgewiesen. Zwar bejahte die Kammer eine Verletzung der ihn treffenden Überwachungspflichten als zentrale Aufgabe eines jeden Aufsichtsrates. Ab dem Zeitpunkt des Beginns der Sonderprüfung hätte der Beklagte zu 6) angesichts der entstandenen Krisensituation auf eine Verschärfung der Zustimmungserfordernisse drängen müssen, um die gebotene präventive Kontrolle zu verstärken. Der Beschluss über den Zustimmungsvorbehalt für Maßnahmen mit einem Volumen von mehr als € 500 Mio. hätte beispielsweise dergestalt abgeändert werden können, dass der Schwellenwert, ab dem die Zustimmung des Aufsichtsrats eingeholt werden muss, sehr viel niedriger angesetzt wird.

 

Allerdings ist die Kammer nicht von der Ursächlichkeit der Änderung des Zustimmungsvorbehalts für den entstandenen Schaden überzeugt, nachdem der Vorstand schon im Jahr 2019 bei der Vergabe eines Darlehens über € 100 Mio. die Auszahlung veranlasste, obwohl ihm nur die Zustimmung des Aufsichtsratsvorsitzenden vorlag, die indes einen zwingend notwendigen Beschluss des gesamten Gremiums nicht ersetzen kann. Nach allgemeinen Grundsätzen der Verteilung im Zivilprozess geht dieser Umstand der nicht sicher zu bejahenden Kausalität zu Lasten des Klägers, hier also des Insolvenzverwalters.

Da in diesem Zivilprozess ein anderer Prüfungsmaßstab zu beachten ist als in einem Strafprozess, ist der Ausgang der aktuell bei der 4. Strafkammer geführten Hauptverhandlung gegen den Vorstandsvorsitzenden für dieses Verfahren ebenso ohne Bedeutung wie das Kapitalanleger-Musterverfahren in Sachen Wirecard vor dem Bayerischen Obersten Landesgericht.

Das Urteil ist nicht rechtskräftig


Verfasser der Pressemitteilung:

Richter am Landgericht München I Maximilian Schmelcher – stellvertretender Pressesprecher