Pressemitteilung 50 vom 21.12.15
Sachverständigenkosten nach Verkehrsunfall - OLG München weist für eine Vielzahl von Verfahren den Weg
Das Oberlandesgericht München hat für seinen Zuständigkeitsbereich Maßstäbe für die bislang sehr umstrittene Erstattungsfähigkeit von Sachverständigenkosten aufgestellt, die durch eine Fahrzeugbegutachtung nach einem Verkehrsunfall entstehen.
Seit Jahren beschäftigt die mit Verkehrszivilsachen befassten Gerichte die Frage, in welcher Höhe der Schädiger (bzw. dessen Haftpflichtversicherung) verpflichtet ist, die Kosten eines vom Geschädigten nach einem Verkehrsunfall zur Begutachtung des Fahrzeugschadens beauftragten Sachverständigen zu übernehmen.
Zu diesem Thema hat am 04.03.2015 im Amtsgericht München und am 07.12.2015 im Oberlandesgericht München jeweils ein Erfahrungsaustausch Münchner Richterinnen und Richter, die im Bereich des Verkehrszivilrechts tätig sind, stattgefunden.
Im Zuge dieser Veranstaltungen hat der 10. Zivilsenat (Verkehrszivilsenat) des OLG München zwei Hinweisbeschlüsse erlassen, die das Thema grundsätzlich aufarbeiten.
Danach gilt für den Zuständigkeitsbereich des Oberlandesgerichts München künftig Folgendes:
Die Kosten eines Sachverständigengutachtens gehören zu den mit dem Schaden unmittelbar verbundenen und gemäß § 249 Abs. 1 BGB auszugleichenden Vermögensnachteilen, soweit die Begutachtung zur Geltendmachung des Schadensersatzanspruchs erforderlich und zweckmäßig ist. Dabei ist auf die Sicht des Geschädigten zum Zeitpunkt der Beauftragung abzustellen (subjektive Schadensbetrachtung). Es kommt darauf an, ob ein verständig und wirtschaftlich denkender Geschädigter nach seinen Erkenntnissen und Möglichkeiten die Einschaltung eines Sachverständigen für geboten erachten durfte.
Erst ab einem Reparaturschaden von 750 EUR kann ein Gutachten erholt werden, dessen Kosten die gegnerische Versicherung ersetzen muss (Bagatellschadensgrenze).
Ist die Beauftragung eines Kfz-Sachverständigen geboten, darf sich der Geschädigte damit begnügen, den für ihn in seiner Lage ohne Weiteres erreichbaren Sachverständigen zu beauftragen. Er muss zuvor keine Marktforschung nach dem honorargünstigsten Sachverständigen betreiben, also keine Kostenvoranschläge einholen und keinen Preisvergleich anstellen.
Eine subjektbezogene Schadensbetrachtung verbietet sich jedoch dann, wenn die Auswahl des Sachverständigen nicht durch den Geschädigten allein, sondern nach Vermittlung einer Werkstätte oder eines Rechtsanwalts erfolgt ("Schadensservice aus einer Hand"). In diesem Fall ist auf deren professionelle Erkenntnismöglichkeiten abzustellen und grundsätzlich davon auszugehen, dass kein Sachverständiger ausgewählt wird, der höhere als die in der Branche üblichen Gebührensätze verlangt. Die Darlegungs- und Beweislast für die Erforderlichkeit der Kosten liegt in beiden Fällen beim Geschädigten (§ 249 Abs. 2 BGB).
Liegen die mit dem Sachverständigen vereinbarten oder von diesem berechneten Preise für den Geschädigten erkennbar über den üblichen Preisen (vgl. § 632 Abs. 2 BGB), so gelten diese nicht als erforderlich i.S.d. § 249 BGB. Wegen der für den Geschädigten bestehenden Schwierigkeit der Erkennbarkeit der üblichen Sachverständigenhonorare ist ab dem 01.01.2016 zu fordern, dass in den Fällen, in denen auch nur teilweise eine Erstattung der Kosten für ein Schadensgutachten durch einen Unfallgegner oder dessen Haftpflichtversicherung in Betracht kommt, der Sachverständige im Rahmen seiner aus dieser Dreiecksbeziehung resultierenden Aufklärungspflicht gegenüber dem Auftraggeber (als Nebenpflicht des Gutachtensauftrags) verpflichtet ist, spätestens in der Sachverständigenkostenrechnung schriftlich darauf hinzuweisen, wenn er über den üblichen Sätzen liegt und deshalb für den Auftraggeber die Gefahr besteht, dass die gegnerische Versicherung den überschießenden Betrag nicht bezahlt. Werden Honorarverhandlungen vor dem Abschluss des Gutachtensauftrags geführt, hat der Hinweis zu diesem Zeitpunkt schriftlich (etwa im Rahmen eines Kostenvoranschlags) zu erfolgen und muss im Streitfall nachgewiesen werden.
Der erforderliche Geldbetrag ist vom Tatrichter anhand tragfähiger Anknüpfungstatsachen gemäß § 287 Abs. 1 ZPO zu ermitteln. Es ist sachgerecht, die Höhe des Grundhonorars von der Höhe des Schadensbetrags abhängig zu machen. Bei einem Standardgutachten zur Feststellung eines Kraftfahrzeugschadens kann gemäß § 287 I ZPO als übliche Vergütung die sich aus der sogenannten Honorarbefragung des BVSK 2015 (Bundesverband der freiberuflichen und unabhängigen Sachverständigen für das Kraftfahrzeugwesen e.V.; http://www.bvsk.de/fileadmin/download/HONORARBEFRAGUNG-2015-Gesamt.pdf)
ergebende Vergütung herangezogen werden. Entsprechend der Honorarbefragung ist es nicht zu beanstanden, wenn bei Spezialgutachten Stundenverrechnungssätze von 150,00 EUR bis 200,00 EUR (plus Nebenkosten) berechnet werden.
Das angemessene Grundhonorar (ohne Mehrwertsteuer) bestimmt sich nach dem BVSK 2015 HB V Korridor, wobei grundsätzlich der untere Betrag des Korridors anzuwenden ist; dazu kommt ein Aufschlag in Höhe von 50 % der Differenz zwischen dem oberen und unteren Betrag des Korridors, wenn der Sachverständige öffentlich bestellt und allgemein vereidigt ist, und/oder ein Aufschlag in Höhe von 50 % der Differenz zwischen dem oberen und unteren Betrag des Korridors, wenn der Sachverständige seinen Sitz in München oder Landkreis München hat (diese örtliche Differenzierung kann auch in weiteren Städten und/oder Regionen veranlasst sein). Da weder Sachverständige noch die Versicherungswirtschaft belastbare anderslautende Erhebungen vorgelegt haben und die Abrechnungstableaus einzelner Versicherungen naturgemäß keine verlässlichen Zahlenwerke beinhalten, da sie ausschließlich von der Interessenlage der jeweiligen Versicherung geprägt sind, ist eine alternative tragfähige Schätzgrundlage nicht ersichtlich.
Dementsprechend und auch inhaltlich vertretbar sind Nebenkosten (ohne Mehrwertsteuer) entsprechend der BVSK 2015-Vorgabe als angemessen anzusehen. Erstattungsfähig sind die für die Erstellung eines ordnungsgemäßen Gutachtens erforderlichen Nebenkosten deshalb nur bis zu Fahrtkosten von 0,70 EUR/km, Fotokosten von 2,00 EUR/Lichtbild und von 0,50 EUR je Lichtbild des zweiten Fotosatzes, Porto/Telefon pauschal 15,00 EUR und Schreibkosten bis zu 1,80 EUR/Seite und 0,50 EUR/Kopie. Weitere Nebenkosten, wie beispielsweise Stundenlöhne für die Fahrtzeit, Kosten für Datenbanken oder für den Ausdruck des Originalgutachtens sind nicht erstattungsfähig; sie sind entsprechend der Umfrage nicht üblich und stellen letztlich einen Teil des Grundhonorars dar. Angemessen sind weiter die zur Schadensfeststellung erforderlichen Zusatzleistungen gegen Nachweis: beispielsweise für das Auslesen des Fehlerspeichers, eine Achsvermessung etc.; bei einer Achs- und Karosserievermessung aber maximal nur bis zu der sich aus dem Zusatzleistungen-Korridor HB V der Honorarbefragung BVSK 2015 ergebenden Höhe.
Die Rechnung eines Sachverständigen kann nur dann beanstandet werden, wenn der Gesamtbetrag der Honorarrechnung über der Summe der oben genannten Zahlen liegt. Es kann nicht der Sachverständige benachteiligt werden, der ein niedrigeres Grundhonorar, dafür aber höhere (berechtigte) Nebenkosten verlangt (oder umgekehrt), wenn das Gesamthonorar andere Gesamthonorare von Sachverständigen in vergleichbaren Fällen nicht übersteigt.
Die Heranziehung der oben genannten Schätzgrundlage der BVSK Honorarbefragung 2015 muss nur dann unterbleiben, wenn derjenige, der diese als unangemessen angreift, konkret darlegt und beweist, dass die Honorarbefragung die Abrechnungspraxis im Bezirk des eingeschalteten Sachverständigen nicht zutreffend wiedergibt. Eine ausreichende Erschütterung der Honorarbefragung des BVSK verlangt mehr als die bloße Behauptung, die üblichen Sätze seien im jeweiligen Bezirk höher oder niedriger unter Beifügung eines Sachverständigenbeweisangebots. Ein substantiierter Vortrag erfordert nach Auffassung des Senats die konkrete Darstellung anhand von Bezugsfällen der Abrechnungspraxis von mindestens 10% der Schadensgutachter des relevanten Bezirks über einen Zeitraum von mindestens 6 Monaten vor Rechnungsstellung des streitigen Gutachtens.
Für die noch anhängigen Altfälle vor dem 01.01.2016 ist von Folgendem auszugehen:
In den Fällen, in denen dem Geschädigten die Vorteile der subjektiven Schadensbetrachtung zuzubilligen sind, hat der Schädiger die Kosten des Sachverständigen voll zu übernehmen, außer der Sachverständige macht auch für den Laien ersichtlich überhöhte Kosten geltend.
In allen anderen Fällen erhält der Geschädigte/der Sachverständige die vollen Kosten nur dann, wenn der Gesamtbetrag die obigen Sätze einschließlich eines Schätzbonus'; von 15% des Gesamtbetrags einhält, in allen anderen Fällen ist auf diesen zu kürzen. Eine Verwendung der obigen Sätze ist jedenfalls für den Zeitraum 2014 bis 2015 sachgerecht, da die Honorarumfrage in dieser Zeit durchgeführt wurde.
(Das Geschäftszeichen zu den beiden Entscheidungen des 10. Zivilsenats des OLG München vom 12.03.2015 und vom 14.12.2015, aus denen sich noch mehr Details ergeben, lautet
10 U 579/15.)
Wilhelm Schneider
Vorsitzender Richter am Oberlandesgericht
Pressesprecher des Oberlandesgerichts München für Zivilsachen