Zivilprozess der Zukunft: Arbeitsgruppe stellt Vorschläge beim Zivilrichtertag am OLG Nürnberg vor / Bayerns Justizminister Eisenreich: "Unsere Welt wird immer digitaler. Eine Digitaloffensive im Zivilprozess ist notwendig. Der Zivilrichtertag ist der Startschuss."
E-Akten statt Papierberge, elektronische Beweismittel und beschleunigte Online-Verfahren: Beim virtuellen deutschlandweiten Zivilrichtertag am OLG Nürnberg stellte eine Arbeitsgruppe unter Vorsitz des Präsidenten des Oberlandesgerichts Nürnberg, Dr. Thomas Dickert, ihre Vorschläge zur Modernisierung des Zivilprozesses vor. Neben den Präsidentinnen und Präsidenten der Oberlandesgerichte, des Kammergerichts, des Bayerischen Obersten Landesgerichts und des Bundesgerichtshofes beteiligten sich auch zahlreiche Richterinnen und Richter verschiedener Oberlandesgerichtsbezirke. Bayerns Justizminister Georg Eisenreich: "Unsere Welt wird immer digitaler. Für die bayerische Justiz stand schon vor der Corona-Pandemie fest: Wir wollen die Chancen der Digitalisierung nutzen, ohne die Risiken aus dem Blick zu verlieren. Die Arbeitsgruppe hat wichtige Vorschläge vorgelegt. Sie müssen als Startschuss für eine breite Diskussion genutzt werden. Wir brauchen eine Digitaloffensive im Zivilprozess."
Der Reformprozess sei dringend notwendig. Eisenreich: "Die Justiz ist für die Menschen da. Wir müssen die Möglichkeiten der Digitalisierung nutzen, um den Zivilprozess der Zukunft noch bürgernäher und effizienter zu gestalten. Die Vorschläge der Arbeitsgruppe sind eine sehr gute Basis für die Diskussion." Auf Initiative Bayerns hat sich die Justizministerkonferenz 2020 dafür ausgesprochen, dass das Bundesjustizministerium eine Kommission zu dem Reformvorhaben einsetzen soll. Bundesjustizministerium, Landesjustizverwaltungen, die Richterschaft und die Anwaltschaft müssten nun die wichtige Reform voranbringen.
Ausgewählte Vorschläge der Arbeitsgruppe:
- Der Zugang zur Ziviljustiz soll erleichtert werden, u. a. soll ein sicherer, bundesweit einheitlicher elektronischer Bürgerzugang in Form eines Justizportals eingerichtet werden.
- Der elektronische Rechtsverkehr soll weiter ausgebaut werden. Es soll ein beschleunigtes Online-Verfahren eingeführt werden. Dabei soll es sich um ein Verfahren mit intelligenten Eingabe- und Abfragesystemen, das in der Regel vollständig im Wege elektronischer Kommunikation geführt wird, handeln.
- Der Einsatz von Videokonferenztechnik soll weiter erhöht werden. Mit virtuellen mündlichen Verhandlungen auch außerhalb des Gerichtssaals, Live-Übertragungen und Vernehmungen von Zeugen oder Sachverständigen per Videoanruf.
Dr. Thomas Dickert, Präsident OLG Nürnberg: "Sind die Zivilgerichte im digitalen Zeitalter angekommen? Ich würde sagen: Ja und nein. Modern sind zum Teil die Arbeitsmittel, modern ist aber nicht das Verfahren. Der Zivilprozess läuft im Wesentlichen nach den Vorgaben der CPO aus dem Jahr 1877. Im elektronischen Rechtsverkehr werden weiterhin Schriftsätze ausgetauscht und Zustellungen mit Empfangsbekenntnis entgegengenommen. Die E-Akte zeigt den Akteninhalt als Abbildungen der Papierschriftsätze auf den Bildschirmen an. Der Zugang für die Bürgerinnen und Bürger zum Gericht ist noch immer weitgehend papiergebunden oder erfordert eine persönliche Vorsprache. Hier besteht dringender Handlungsbedarf: Für die Rechtsuchenden ist ein zeitgemäßer digitaler Zugang zu den Gerichten zu ermöglichen. Außerdem muss der Zivilprozess mit den Mitteln der IT effizienter, schneller und ressourcenschonender gestaltet werden. Das Diskussionspapier einer von den Präsidentinnen und Präsidenten der Oberlandesgerichte eingerichteten Praktiker-Arbeitsgruppe macht dazu viele Vorschläge, wie das Prozessrecht zeitgemäß weiterentwickelt werden kann."
Prof. Dr. Roman Poseck, Präsident OLG Frankfurt: "Der Alltag und die Abläufe in unseren Gerichten sind noch immer zu stark durch eine frühere, inzwischen überholte analoge Welt geprägt. Technisch gibt es in der Justiz einen Digitalisierungsschub, der durch Corona noch einmal an Fahrt gewonnen hat. Jetzt muss es darum gehen, auch die Prozessordnungen so zu verändern, dass Digitalisierung und Verfahrensrechte ineinandergreifen. Ansonsten bleibt die Modernisierung auf halbem Wege stecken. Für die anstehenden grundlegenden Veränderungen brauchen wir eine breite Basis und vor allem praktischen Sachverstand. Der Nürnberger Zivilrichtertag ist deshalb ein Meilenstein; er ist wichtiger Impulsgeber für die weitere Reformdiskussionen."
Minister Eisenreich: "Ich danke allen Beteiligten herzlich für den großen persönlichen Einsatz, allen voran dem Vorsitzenden Dr. Dickert. Jetzt brauchen wir eine breit geführte Diskussion, die alle Akteure einbezieht: Anwälte, Wissenschaftler, Verbraucherverbände. Auf Initiative Bayerns hat die Justizministerkonferenz die Bundesjustizministerin daher im vergangenen Herbst aufgefordert, eine Kommission einzusetzen, die dem Zivilprozess der Zukunft den Weg bereitet. Jetzt ist sie am Zug."
Hintergrund:
Die Arbeitsgruppe "Modernisierung des Zivilprozesses" unter dem Vorsitz des Präsidenten des Oberlandesgerichts Nürnberg, Dr. Thomas Dickert, hat im September 2019 ihre Arbeit aufgenommen.
Die Mitglieder: 45 Richterinnen und Richter aus deutschen Zivilgerichten aller Instanzen und Hierarchieebenen.
Die in Nürnberg vorgestellten Vorschläge sind abrufbar unter "Diskussionspapier Modernisierung des Zivilprozesses (bayern.de)".
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… dass die Fachgerichtsbarkeiten, d.h. die Verwaltungs-, Arbeits-, Sozial- und Finanzgerichte in Bayern nicht zum Justizressort, sondern zum Geschäftsbereich der jeweiligen Fachministerien gehören?