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Oberlandesgericht München

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Pressemitteilung 32 vom 29.07.2019

„Abenteuer Winterwald“ – verletzte Klägerin erhält Schadensersatz (Az: 21 U 2981/18)

Der 21. Senat des Oberlandesgerichts München hat in seinem heutigen Berufungsurteil entschieden, dass der Bayerische Jugendring und der Veranstaltungsleiter H. der Klägerin den materiellen und immateriellen Schaden, den diese bei einer vom Stadtjugendring I. im Jahr 2014 veranstalteten Jugendfreizeit mit dem Titel „Abenteuer Winterwald“ erlitten hatte, zu ersetzen haben.

Der Stadtjugendring I. veranstaltete in den Faschingsferien 2014 eine Freizeit an einem Jugendbildungshaus an einem Baggersee mit dem Titel „Abenteuer Winterwald“. Ausweislich des Flyers bestand das Programm aus „Feuer machen, Unterschlupf bauen, Spuren lesen.“

Der damals 9 jährigen Klägerin war im Rahmen der Jugendfreizeit ein Klappmesser übergeben worden, mit dem sie Rinde von Birken abschälen wollte, um Feuer zu machen. Beim Rindenabschälen geriet ihr das Messer in das rechte Auge. Sie erlitt eine perforierende Hornhaut-Iris-Linsenverletzung, die mehrfach operativ versorgt werden musste. Das rechte Auge ist dauerhaft geschädigt.

Die Klägerin verlangt die Feststellung, dass die Beklagten ihr Schadensersatz und Schmerzensgeld zu leisten haben. Sie hat vortragen lassen, dass anlässlich der Anmeldung zur Veranstaltung ihre Mutter als ihre gesetzliche Vertreterin und auch später nicht darüber aufgeklärt worden sei, dass auf der Veranstaltung mit Messern hantiert werde. Eine Aufklärung der Klägerin selbst sei lediglich hinsichtlich Auf- und Zuklappen des Messers erfolgt.

Die Beklagten hingegen, die sich gegen die Klage wehrten, sind der Auffassung, anhand des Programms sei von vornherein ersichtlich gewesen, dass Messer zum Einsatz kommen. Die Klägerin sei auch ausreichend in den Gebrauch des Messers eingewiesen worden. Der Unfall sei nur durch einen anweisungswidrigen Umgang mit dem Messer erklärbar. Die Kinder seien auch ausreichend überwacht worden. Sämtliche Vorgaben und Mindeststandards seien eingehalten worden, der Betreuungsschlüssel sei mit 1:5,5 sogar besser gewesen als vorgeschrieben. Eine Entschädigung durch den Unfallversicherer sei bereits erfolgt.

Der Senat hat aufgrund der Berufung der Klägerin in seiner heutigen Entscheidung das Urteil des Landgerichts Ingolstadt, das die Klage abgewiesen hatte, weil es Verletzung vertraglicher Pflichten oder von Verkehrssicherungspflichten als nicht nachgewiesen erachtete, aufgehoben und der Klage in vollem Umfang stattgegeben.

Der Senat stellte zunächst fest, dass im vorliegenden Fall die vertraglichen Verpflichtungen des Jugendrings und die Verkehrssicherungs-/Aufsichtspflichten beider Beklagten im Rahmen des § 823 BGB deckungsgleich seien. Das bedeutet, dass die Beklagten die Vorkehrungen treffen mussten, die erforderlich und für sie zumutbar waren, um die Schädigung Dritter möglichst zu verhindern. Dabei gelte einerseits, dass zugunsten von Kindern ein strenger Sicherheitsmaßstab anzulegen sei, andererseits aber auch, dass ein vollständiges Maß an Sicherheit nicht erreichbar sei und Kinder im Alter von sieben bis acht Jahren schon ein gewisses Maß an Selbständigkeit haben und nicht „auf Schritt und Tritt“ überwacht werden müssten. Es hat auch dem Vorbringen der Beklagten dahingehend, dass es wichtig sei, Kindern in bewusstem Gegensatz zu Konsum, reiner Spaßorientierung und Fremdbestimmung Angebote der Freizeitgestaltung zu unterbreiten, die wesentliche persönlichkeitsprägende Fähigkeiten wie Selbständigkeit, Eigenverantwortung und Risikobewusstsein fördern, zugestimmt. Der Senat hält es deshalb auch nicht von vornherein für pflichtwidrig, Kindern im Alter von 7 bis 12 Jahren im Rahmen einer Freizeit ein Schnitzmesser in die Hand zu geben.

Trotzdem hat es im vorliegenden Fall eine Pflichtverletzung der Beklagte bejaht und zwar bei der konkreten Belehrung und Beaufsichtigung der damals 9-jährigen Klägerin. Die Kinder seien zwar zum Umgang mit Messern generell (Zuklappen beim Laufen, Schnitzen vom Körper weg) belehrt worden, die Klägerin sei aber nicht darüber belehrt oder es sei ihr gezeigt worden, wie Rinde abzuschälen sei. Außerdem sei  die Klägerin bei dem Schadensvorgang allein gewesen. Nach Auffassung des Senats ist auch der Hinweis, vom Körper weg zu schnitzen, nicht ausreichend gewesen, wenn – wie hier – die Rinde von einem Baum abgeschält werden sollte. Bei einem Baum könne man eben nicht vom Körper weg schnitzen. Es wäre vielmehr  geboten gewesen, den Kindern zu erläutern, dass man das Messer gar nicht zum regelrechten Scheiden in die Baumrinde verwenden muss (und soll), sondern dass das Messer allenfalls vorsichtig als unterstützendes Hilfsmittel beim Ablösen loser bzw. leicht lösbarer Rindenteile eingesetzt werden sollte, ggf. dass auf einen ausreichenden Abstand von Kopf/Körper zum Messer geachtet wird, oder man hätte das Kind beim Abschälen der Rinde mit dem Messer beaufsichtigen müssen. Als erkennbar gewesen sei, dass die  Klägerin mit einem Messer „Rinde abmachen“ wollte, hätte es  entweder einer vorherigen ausdrücklichen Belehrung und Demonstration bedurft oder jemand hätte mit ihr zum Baum gehen und ihr zeigen müssen, wie es geht.

Der Senat verneinte ein Mitverschulden der Klägerin. Die Beweisaufnahme habe keinerlei Anhaltspunkte dafür ergeben, dass die Klägerin mit dem Messer „Unsinn machen“ wollte oder aus kindlichem Leichtsinn falsch mit dem Messer umgegangen ist.

Der Senat hat die Revision zum BGH nicht zugelassen. Die im Rechtsstreit unterlegenen Beklagten können deshalb (nur) mit Nichtzulassungsbeschwerde zum BGH gegen die Entscheidung vorgehen.


Annette Neumair
Richterin am Oberlandesgericht
Pressesprecherin bei dem Oberlandesgericht München für Zivilsachen