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Staatsanwaltschaft München I

Justiz ist für die Menschen da – Recht Sicherheit Vertrauen

Pressemitteilung 06 vom 04.09.20

Anklageerhebung gegen Flucht- und Geisterfahrer wegen Mord, versuchtem Mord, Durchführung eines verbotenen Kraftfahrzeugrennens u.a.

Die Staatsanwaltschaft München I hat am 12. August 2020 Anklage gegen den 35-jährigen Angeschuldigten Victor B. wegen Mordes an einem 14-jährigen Schüler, versuchtem Mord an einer 16-jährigen Jugendlichen und drei weiteren Verkehrsteilnehmern, Gefährdung des Straßenverkehrs, Durchführung eines verbotenen Kraftfahrzeugrennens, sowie tätlichem Angriff auf Vollstreckungsbeamte erhoben.

Die Staatsanwaltschaft geht in ihrer Anklage aufgrund ihrer bisherigen Ermittlungen von folgendem, vor Gericht noch zu beweisenden Tatverdacht aus:

Der Angeschuldigte befuhr am 15.11.2019 gegen 23.20 Uhr mit seinem schwarzen BMW die Landsberger Straße in München in östlicher Richtung, wendete dort verbotswidrig durch Überfahren einer Sperrfläche und wurde dabei von zwei uniformierten Polizeibeamten in ihrem Dienstfahrzeug beobachtet. Deren Aufforderung anzuhalten kam er nicht nach. Aus einer vorangegangen Verurteilung wegen Handeltreibens mit Betäubungsmitteln war eine Reststrafe von etwa einem Jahr gegen ihn zur Bewährung ausgesetzt. Im Rahmen seiner Bewährungsauflagen war ihm jeglicher Drogenkonsum untersagt. Er hatte jedoch an diesem Tag bereits Kokain und Alkohol konsumiert, zudem führte er auch eine geringe Menge Marihuana mit sich.

Der Angeschuldigte wollte es unter allem Umständen vermeiden, wieder inhaftiert zu werden, und wollte daher der bevorstehenden Polizeikontrolle durch Flucht entgehen. Auf der Fürstenrieder Straße, auf welcher die zulässige Höchstgeschwindigkeit 50 km/h beträgt, beschleunigte der Angeschuldigte sein Fahrzeug stark und fuhr mit einer deutlich überhöhten Geschwindigkeit von etwa 120 km/h rücksichtslos im Gegenverkehr auf der mittleren Fahrspur, wobei ihm auf seiner Fahrtstrecke mindestens sechs noch unbekannte Fahrzeuge entgegenkamen und er die Ampel an der Kreuzung zur Gotthardstraße bei rot überfuhr. Die Polizeistreife, die mit deutlich geringerer Geschwindigkeit dem Angeschuldigten mit sich vergrößerndem Abstand folgte, hatte inzwischen über Funk über die Flucht- und Geisterfahrt des Angeschuldigten informiert, weshalb nun ein weiterer Streifenwagen hinzukam. Auf der weiterhin andauernden Flucht des Angeschuldigten mit einer ungebremsten Durchschnittsgeschwindigkeit von 122 km/h auf der Fürstenrieder Straße im Gegenverkehr kam es zunächst fast zu einer Kollision mit einem Taxi. Sodann fuhr der Angeschuldigte auf einen MVG-Bus der Linie 168 an der Bushaltestelle „Aindorfer Strasse“ zu. Aus diesem Bus waren kurz zuvor vier Jugendliche ausgestiegen, die nun die Fahrbahn überqueren wollten. Zwei weitere Verkehrsteilnehmer konnten dem Angeschuldigten mit ihren Pkws gerade noch ausweichen, bevor dieser mit einer Geschwindigkeit von 124 km/h mit zwei der Jugendlichen kollidierte. Die 16-jährige Geschädigte wurde am rechten Bein erfass, kam jedoch nicht zu Fall und erlitt lediglich eine Beinfraktur. Der 14-jährige Jugendliche wurde dagegen durch die rechte Frontseite des Tatfahrzeugs erfasst und erlitt sofort zahlreiche Frakturen und innere Verletzungen, unter anderem eine nicht überlebbare Ruptur der Aorta. Er wurde mindestens 43 Meter weit geschleudert.

Die Kollision mit dem Getöteten löste sowohl den Fahrerairbag als auch die beiden Window-Airbags in dem Fahrzeug des Angeschuldigten aus. Der Angeschuldigte setzte dennoch seine Fahrt zunächst ungebremst mit etwa 120 km/h fort, weshalb ihm ein weiteres Fahrzeug zur Verhinderung eines frontalen Zusammenstoßes so ausweichen musste, dass es in einen am Fahrbahnrand stehende Litfaßsäule fuhr, welche hierdurch um 40 cm verschoben wurde. Erst jetzt bremste der Angeschuldigte ab, stieg aus dem rollenden Wagen und flüchtete zu Fuß in den nahegelegenen Westpark, wo er von Polizeibeamten schließlich gegen seinen massiven Widerstand festgenommen werden konnte. Er befand sich seit 16.11.19 zunächst in Untersuchungshaft, seit dem 05.05.20 in Strafhaft für die widerrufene Bewährungsstrafe.

Nach Auffassung der Staatsanwaltschaft war dem Angeschuldigten bewusst, dass bei seiner rücksichtlosen Fahrweise mit deutlicher überhöhter Geschwindigkeit im Gegenverkehr das von ihm gelenkte Fahrzeug eine nicht vorhersehbare Anzahl von Menschen töten könnte. Er nahm dies jedoch billigend in Kauf und stellte stattdessen seine Interessen – nämlich eine erneute Inhaftierung unter allen Umständen zu vermeiden – in krasser Eigensucht über das Lebensrecht anderer Verkehrsteilnehmer (Tötungsvorsatz; Mordmerkmale der niedrigen Beweggründe und des gemeingefährlichen Mittels).

Da weder Fahrzeugführer entgegenkommender Fahrzeuge noch die Fahrbahn kreuzende Fußgänger sich eines Angriffs auf ihr Leben durch ein mit hoher Geschwindigkeit entgegen der Fahrtrichtung fahrendes Fahrzeug versahen, liegt nach Ansicht der Staatsanwaltschaft zudem das Mordmerkmal der Heimtücke vor.
Das weitere Mordmerkmal der Verdeckungsabsicht erkennt die Staatsanwaltschaft darin, dass es dem Angeschuldigten bei seiner Flucht vor der Polizeikontrolle um die Vereitelung der Aufdeckung seines Verstoßes gegen das BtMG ging, sowie – sobald er realisierte, dass es zu einem Unfall gekommen war, bei dem Menschen verletzt worden waren – die Vereitelung seiner diesbezüglichen Täterschaft.

Die äußerst umfangreichen Ermittlungen haben zu 21 Bänden Ermittlungsakten und der nunmehr gegenständlichen 164-seitigen Anklageschrift geführt. Von der Staatsanwaltschaft werden 17 polizeiliche und 31 weitere Zeugen, zahlreiche Urkunden und 15 Sachverständige bzw. sachverständige Zeugen zum Beweis angeboten. Durch die Dash-Cam eines Zeugen wurde der Fahrverlauf des Angeschuldigten ab dem Zeitpunkt etwa 26 Sekunden vor der Kollision mit dem Getöteten und der Verletzten Jugendlichen erfasst, zudem liegen Videos der Innenraumüberwachungen zweier MVG-Busse vor.

Der Angeschuldigte macht bisher von seinem Schweigerecht Gebrauch. Als Motiv für die Flucht- und Geisterfahrt nimmt die Staatsanwaltschaft nach den bisherigen Ermittlungen an, dass der Angeschuldigte um jeden Preis vermieden wollte, wieder inhaftiert zu werden.

Über die Eröffnung des Hauptverfahrens und damit über eine mögliche Terminierung einer Hauptverhandlung hat das Landgericht München I – Schwurgericht, 1. Strafkammer, zu entscheiden.


Allgemeiner Hinweis zum Zeitraum zwischen dem Datum der Anklageerhebung und der Veröffentlichung der Pressemitteilung: Nach den Richtlinien für das Straf- und Bußgeldverfahren (Nr. 23 Abs. 2 RiStBV) darf eine Anklageerhebung der Presse erst dann bekannt gegeben werden, wenn die Anklageschrift einem Angeschuldigten bzw. dessen Verteidigung nachweislich zugegangen ist.

gez.
Leiding
Oberstaatsanwältin
Pressesprecherin