Pressemitteilung 02 vom 09.03.21
Anklageerhebungen in mehreren Verfahren wegen Pflegebetruges
Die Staatsanwaltschaft München I hat in den letzten Wochen in drei sehr umfangreichen Verfahrenskomplexen gegen zahlreiche Beschuldigte wegen Pflegebetruges in München und Augsburg Anklagen zum Landgericht München I (Wirtschaftsstrafkammer) und zum Landgericht Augsburg (Wirtschaftskammer) erhoben. Den Angeschuldigten wird unter anderem banden- und gewerbsmäßiger Betrug in einer Vielzahl von Fällen zur Last gelegt. Die Staatsanwaltschaft geht in ihren Anklagen aufgrund ihrer bisherigen Ermittlungen von folgendem, vor Gericht noch zu beweisenden Tatverdacht aus:
Tatkomplex „PZA“
Der derzeit in Untersuchungshaft befindliche Hauptangeschuldigte rechnete als wirtschaftlicher Inhaber und faktischer Geschäftsführer des Pflegedienstes Pflegezentrum Augsburg PZA GmbH mit Sitz in Augsburg im Zeitraum vom Anfang 2014 bis zu seiner Inhaftierung Ende Oktober 2019 unberechtigt insgesamt rund 2,3 Mio. € gegenüber unterschiedlichen Kostenträgern ab. In dem System, welches der Hauptangeschuldigte unter anderem mit der Hilfe der drei weiteren Angeschuldigten und von weiteren beteiligten Mitarbeitern und Patienten über Jahre hinweg und am Vorbild seines vorherigen Pflegedienstes etablierte, wurden zu einem überwiegenden Teil Pflegeleistungen abgerechnet, die nicht, nicht in vollem Umfang bzw. nicht durch den Pflegedienst PZA oder unter Verstoß gegen die gesetzlich oder vertraglich vereinbarten Voraussetzungen erbracht wurden. Es wurden gezielt vor allem Patienten aus dem russisch-sprachigen Raum angeworben, bei denen die Erlangung eines Pflegegrades bzw. einer Pflegestufe aufgrund ihres Alters und vorliegender Vorerkrankungen erfolgversprechend erschien. Die überwiegende Mehrzahl der Patienten erhielt anschließend nur einen Bruchteil oder keine der gegenüber den Kostenträgern abgerechneten Leistungen. Stattdessen erhielten sie nicht abrechnungsfähige Alltagshilfen wie zum Beispiel Fahrten zum Arzt, Dolmetscher-Dienste, Übernahme des Schriftverkehrs mit Behörden, Einkaufsservice und Putzleistungen. Neben der gezielten Manipulation von Prüfungen der Patienten durch den medizinischen Dienst der Krankenkassen (MDK) oder anderer Stellen basierte das Geschäftsmodell auch darauf, ärztliche Verordnungen, welche die Abrechnungsgrundlage für Leistungen nach dem Sozialgesetzbuch V darstellen, durch falsche oder übertriebene Angaben zum Gesundheitszustand der Patienten zu erschleichen. Durch vorbereitete Unterlagen, vorformulierte Atteste und begleitete Arztbesuche, bei welchen die Angaben überwiegend durch die Angeschuldigten und nicht etwa durch die Patienten selbst gemacht wurden, konnte so über Jahre hinweg eine Vielzahl an ärztlich verordneten, aber tatsächlich nicht veranlassten Leistungen abgerechnet werden.
Der Hauptangeschuldigte nutzte darüber hinaus über Jahre hinweg zahlreiche Möglichkeiten zur unberechtigten Erlangung von Sozialleistungen für sich oder seine Angehörigen. So bezog er wiederholt zu Unrecht Eingliederungshilfen der Bundes-agentur für Arbeit und des Jobcenters Augsburg-Stadt sowie Elterngeld und Sozialhilfe (letztere sogar während seiner Inhaftierung als Untersuchungsgefangener).
In dem 195 Bände umfassenden Ermittlungsverfahren wurde eine 327-seitige Anklage erhoben. Neben rund 1,4 Mio. €, die auf Konten des Pflegedienstes arrestiert wurden, wurden beim Hauptbeschuldigten zu Hause bzw. in Schließfächern seiner Eltern, für die er verfügungsbefugt war, rund 7 Mio. € Bargeld beschlagnahmt. Gegen weitere rund 30 Beschuldigte sind die Ermittlungen noch nicht abgeschlossen.
Tatkomplex „Fenix“
Vier angeschuldigte Verantwortliche der Fenix ambulanter Haus- und Krankenpflegedienst GmbH, von welchen sich zwei derzeit in Untersuchungshaft befinden, rechneten im Zeitraum von Anfang 2012 bis Ende 2019 in einem erheblichen Umfang Pflegeleistungen ab, obwohl diese Leistungen entweder tatsächlich nicht erbracht oder jedenfalls deshalb nicht abrechenbar waren, weil sie unter Verstoß gegen gesetzliche Vorschriften oder vertragliche Vereinbarungen erbracht worden waren. Ab Mitte Juni 2017 beteiligte sich eine weitere Angeschuldigte. Durch die hierauf seitens der Kostenträger geleisteten Zahlungen entstand diesen ein Schaden in Höhe von insgesamt 3,2 Mio. €. Um eine Entdeckung der betrügerischen Handlungen der Angeschuldigten durch die Kostenträger zu verhindern, wurden nicht nur die Überprüfungen des Pflegedienstes durch den MDK systematisch manipuliert, sondern eine Mitwirkung der Patienten und deren Angehöriger hieran auch dadurch sichergestellt, dass diesen Kompensationsleistungen in Gestalt von Geldzahlungen und hauswirtschaftlicher Versorgung gewährt wurden.
Da gegen eine Angeschuldigte bei der Staatsanwaltschaft Augsburg bereits ein Ermittlungsverfahren wegen ihrer Tätigkeit als Geschäftsführerin eines anderen Pflegedienstes anhängig war, und Kranken- und Pflegekassen sie daher nicht als Pflegedienstleitung akzeptierten, wählten die Angeschuldigten ein sog „Strohmannkonstrukt“ in dessen Ausführung ein anderweitig verfolgter Student, welcher zu diesem Zeitpunkt seinen Lebensmittelpunkt in Spanien hatte, zum Schein Geschäftsführer wurde. Die äußerst umfangreichen Ermittlungen haben zu 199 Bänden Ermittlungsakten und der nunmehr erhobenen 415-seitigen Anklageschrift gegen die fünf Angeschuldigten geführt. Gegen weitere rund 20 Beschuldigte des Verfahrenskomplexes sind die Ermittlungen noch nicht abgeschlossen.
Tatkomplex „Irena“
Insgesamt vier Angeschuldigte rechneten für den Pflegedienst Irena GmbH mit Sitz in München im Zusammenwirken mit weiteren beteiligten Ärzten, Angestellten und Patienten im Zeitraum von Februar 2015 bis Oktober 2019 nicht abrechnungsfähige und nicht erbrachte Pflegeleistungen gegenüber einem Abrechnungsunternehmen ab, das seinerseits gegenüber den jeweiligen Kostenträgern abrechnete. Die Angeschuldigten verursachten hierdurch insgesamt einen Schaden des Abrechnungsunternehmens in Höhe von mindestens 2 Mio. €. Alle vier Angeschuldigten sitzen derzeit in Untersuchungshaft: der ehemalige Geschäftsführer und Gesellschafter, der weitere Gesellschafter, der ebenfalls für den Pflegedienst tätige Sohn dieses weiteren Gesellschafters und die für den Pflegedienst tätige Lebensgefährtin des Geschäftsführers. Gegen weitere rund 50 Beschuldigte, insbesondere gegen eingeweihte und mitwirkende Ärzte und Patienten sind die Ermittlungen noch nicht abgeschlossen. Während wenige Pflegepatienten des Pflegedienstes tatsächlich bzw. annähernd so gepflegt wurden, wie dies verordnet bzw. genehmigt war und abgerechnet wurde, erhielt die überwiegende Mehrzahl der Patienten nicht abrechenbare bzw. nur einen Bruchteil der genehmigten und abgerechneten Leistungen. Um solche Patienten für den Pflegedienst zu gewinnen erhielten diese zumeist Hilfen im Alltag wie Putzen, Einkaufen, Kochen, Fahrdienste, Maniküre und Pediküre sowie Unterstützungen – insbesondere in Form von Organisation, Begleitung und Dolmetschertätigkeiten – bei der Durchführung von Arztbesuchen. Das Ermittlungsverfahren umfasst 150 Bände Ermittlungsakten, die Anklageschrift 237 Seiten.
Allgemeiner Hinweis zum Zeitraum zwischen dem Datum der Anklageerhebung und der Veröffentlichung der Pressemitteilung: Nach den Richtlinien für das Straf- und Bußgeldverfahren (Nr. 23 Abs. 2 RiStBV) darf eine Anklageerhebung der Presse erst dann bekannt gegeben werden, wenn die Anklageschrift einem Angeschuldigten bzw. dessen Verteidigung nachweislich zugegangen ist.
gez. Oberstaatsanwältin Leiding
Pressesprecherin