Amtsgericht Neu-Ulm
01.07.2024

Erfolgreicher Test im bundesweit ersten Reallabor zum Zivilprozess / Gerichte in Bayern und Niedersachsen erproben Software zur digitalen Aufbereitung von Streitstoff in Zivilverfahren / Bayerns Justizminister Eisenreich: "Dieses weiterentwickelte Basisdokument kann ein wichtiger Baustein für den Zivilprozess der Zukunft sein." Die niedersächsische Justizministerin Dr. Wahlmann: "Die Richterassistenz ist ein Meilenstein und der Beweis einer modernen und zukunftsorientierten Justiz."

Über einhundert Verfahren verschiedener Rechtsgebiete, 60 Richterinnen und Richter, 18 Monate Testphase: Bayerische und niedersächsische Landgerichte haben in dem bundesweit ersten "Reallabor" im Zivilprozess erfolgreich eine Software erprobt, die in Zukunft in Zivilprozessen die Arbeit erleichtern könnte. Bayerns Justizminister Georg Eisenreich: "Zivilgerichte sind bundesweit mit Dieselverfahren, Fluggastklagen, Schadenersatzklagen wegen behaupteter Datenschutzverstöße, Klagen gegen Prämienerhöhungen von privaten Krankenversicherern und zahlreichen weiteren Massenverfahren stark belastet. Es kostet wertvolle Zeit und Ressourcen, den Streitstoff zu ordnen und die wesentlichen Elemente zu erfassen. In unserem Projekt haben wir ein digitales Basisdokument getestet, das an die Stelle der Schriftsätze tritt. Dadurch wird der Streitstoff digital aufbereitet, übersichtlich dargestellt und der Zivilprozess kann gerade auch bei Massenverfahren und Verfahren mit geringen Streitwerten für alle Beteiligten transparenter und effektiver werden." Die niedersächsische Justizministerin Dr. Kathrin Wahlmann: "Gerade im Zuge der Modernisierung und Digitalisierung der Justiz sollten wir innovative Technologien nutzen, um Gerichte insbesondere bei der Bearbeitung einer Vielzahl an ähnlich gelagerten Verfahren zu entlasten. Mit dem digitalen Basisdokument ist uns genau das gelungen: Mithilfe modernster Technologie haben wir eine Lösung entwickeln können, die es Richterinnen und Richtern ermöglicht, effektiver zu arbeiten – gerade in Massenverfahren. Das beschleunigt nicht nur Prozesse und entlastet die Kolleginnen und Kollegen bei Gericht. Es stärkt auch das Vertrauen der Menschen in unsere Justiz, die sich modern und zukunftsorientiert aufstellt."

Die eineinhalbjährige Erprobungsphase an den Landgerichten Hannover, Landshut, Osnabrück und Regensburg ist erfolgreich abgeschlossen. Die an dem Projekt beteiligten Lehrstühle für Deutsches Verfahrensrecht (Prof. Dr. Christoph Althammer) und für Medieninformatik (Prof. Dr. Christian Wolff) an der Universität Regensburg werten derzeit die Ergebnisse aus. Der Abschlussbericht wird im Juli vorgestellt.

Eisenreich: "Dieses weiterentwickelte Basisdokument kann ein wichtiger Baustein für den Zivilprozess der Zukunft sein. Das Projekt sollte erproben, ob sich Lösungen finden lassen, die für Gerichte, die Anwaltschaft und die Bürgerinnen und Bürger gleichermaßen hilfreich sind. Ein Werkzeug, mit dem Massenverfahren und Verfahren mit geringen Streitwerten schneller und effizienter bearbeitet werden können, hilft allen. Deshalb haben wir auch die Praxis von Anfang an in die Entwicklung der Software eng eingebunden. Rechtsanwältinnen und -anwälte sowie Richterinnen und Richter haben ihre praktischen Erfahrungen eingebracht. Das entwickelte Basisdokument ist ein Projekt von Praktikern für Praktiker."

Ministerin Wahlmann: "Ich danke allen Richterinnen und Richtern und Rechtsanwältinnen und Rechtsanwälten, die den Aufwand nicht gescheut und an dem Projekt mitgewirkt haben. Nur so ist es uns gelungen, ein Tool zu entwickeln, das den Bedürfnissen aller am Prozesse Beteiligten Rechnung trägt. Bei allem technischen Fortschritt muss aber immer auch klar sein: Am Ende ist es der Mensch, der die Entscheidungen fällt – und keine Maschine."

Auf der Frühjahrskonferenz im Juni 2022 hat die Justizministerkonferenz bereits festgestellt, dass die Schriftsätze in Massenverfahren einen erheblichen gerichtlichen Aufwand bei der Sachverhaltserfassung verursachen, da sich diese oftmals nicht auf den konkreten Einzelfall beziehen. Die Länder setzten sich deshalb für Überlegungen ein, wie in diesen Fällen Strukturvorgaben für einen einzelfallbezogenen und konzentrierten Parteivortrag helfen können.

Auf Initiative Bayerns hat die Konferenz der Justizministerinnen und Justizminister mehrfach ein umfassendes rechtspolitisches Reformpaket des Bundes für den Zivilprozess angemahnt. Eisenreich: "Für die Digitalisierung der Justiz ist eine gute Zusammenarbeit von Bund und Ländern notwendig, weil die Länder für die Justiz – mit Ausnahme der obersten Gerichtshöfe und des Generalbundesanwalts – zuständig sind und der Bund für die Gesetzgebung. Für eine erfolgreiche digitale Transformation der Justiz bedarf es entschlossener Schritte und mehr Tempo. Neben hohen Investitionen ist für die Digitalisierung der Justiz die Modernisierung von Bundesgesetzen notwendig. Der bestehende gesetzliche Rahmen ist noch viel zu oft ein Hemmschuh und muss durch den Bund an vielen Stellen modernisiert werden. Ab Juli erarbeitet eine auf bayerische Initiative von der Justizministerkonferenz beschlossene Kommission bis Ende des Jahres Vorschläge."

Hintergrund zur Digitaloffensive von Bayerns Staatsminister der Justiz Georg Eisenreich:

  • Elektronischer Rechtsverkehr: Der elektronische Rechtsverkehr ist bei allen bayerischen Gerichten und Staatsanwaltschaften eingeführt.

  • Videoverhandlungen: Seit Juli 2021 haben alle 99 ordentlichen Gerichte in Bayern Zugang zu einer Videokonferenzanlage. Daneben setzt die Justiz auf ein Videokonferenz-Tool, das bayernweit freigegeben wurde. Allein im Jahr 2023 gab es rund 13.000 Videoverhandlungen und -anhörungen im Freistaat.

  • Einführung der E-Akte: Bis 2026 muss die elektronische Akte deutschlandweit eingeführt sein. In Bayern müssen 127 Standorte mit etwa 15.000 Arbeitsplätzen mit der E-Akte ausgestattet werden. Die Regeleinführung der E-Akte an allen bayerischen Gerichten in Zivil-, Familien- und Immobiliarvollstreckungs- sowie Betreuungssachen ist abgeschlossen. Am 24. Juni 2024 wird sie in Grundbuch- und am 15. Juli 2024 auch in Insolvenzsachen beendet sein. Geplant ist, die Regeleinführung in Nachlass- und Strafsachen im Herbst 2024 zu beginnen. Bis heute wurden bereits über 750.000 Verfahren rein elektronisch geführt (Pressemitteilung hier abrufbar).

  • Start-up-Gründung: Auf Initiative des Justizministers hat die bayerische Justiz 2022 gemeinsam mit der UnternehmerTUM das "Legal Tech Colab" ins Leben gerufen – einen Inkubator und Accelerator für Start-ups im Legal-Tech-Bereich (Pressemitteilung hier abrufbar).

  • Neue Digitalabteilung im Justizministerium: Justizminister Eisenreich hat zum 1. April 2023 eine neue Abteilung "Digitalisierung und Innovation" eingerichtet (Pressemitteilung hier abrufbar). Zudem wurde im Juli 2023 ein neues Referat für Legal Tech und Künstliche Intelligenz geschaffen.

  • Interdisziplinäre Vernetzung und Austausch: Im März 2018 wurde die "Denkfabrik Legal Tech" gegründet, die über 600 Juristinnen und Juristen sowie IT-Expertinnen und -Experten aus Justiz, Wirtschaft, Anwaltschaft und Forschung vernetzt. Ziel ist es, die Kenntnisse über Einsatzmöglichkeiten moderner Legal-IT-Tools zu vertiefen. Minister Eisenreich richtete zudem für strategische Aufgaben im Oktober 2019 die "Stabsstelle Legal Tech" ein.

  • Neues Berufsfeld für Referendarinnen und Referendare: Seit Juli 2023 können Referendarinnen und Referendare in Bayern das neue Berufsfeld "IT-Recht und Legal Tech" wählen (Pressemitteilung hier abrufbar).

  • Beteiligung an der Fortentwicklung innovativer Ermittlungswerkzeuge: Die bayerische Justiz beteiligte sich gemeinsam mit Spitzenforschern aus den Niederlanden an der Fortentwicklung des "Dark Web Monitor" – einer Art Suchmaschine für das Darknet. Im Juni 2022 stiegen auch Wiener Blockchain-Spezialisten in das Projekt ein: Mit dem Analyse-Tool GraphSense können die Ermittler besser der Spur des Geldes folgen, wenn z. B. für Kinderpornografie mit Bitcoins bezahlt wird. Zudem ist die bayerische Justiz mit österreichischen Spitzenforschern seit August 2023 dabei, den Fake-Shop Detector auf die besonderen Anforderungen der Strafverfolgungsbehörden zuzuschneiden und weiterzuentwickeln (Pressemitteilung hier abrufbar).

  • Automatisierte Anonymisierung von Urteilen: Ziel eines vom Bayerischen Staatsministerium der Justiz unterstützten Forschungsprojekts mit der Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg ist es, in Zukunft in geeigneten Fachbereichen eine größere Anzahl von Urteilen veröffentlichen zu können.

  • Software zur juristischen Aktenstrukturierung: Das Bayerische Justizministerium hat zudem bereits die Entwicklung eines Projekts für eine Software zur juristischen Aktenstrukturierung in Auftrag gegeben und erfolgreich ausgeschrieben. Die Software wird Entscheiderinnen und Entscheidern als Hilfsmittel bei der juristischen Fallbearbeitung dienen. Die Software wird voraussichtlich noch in diesem Jahr zur Verfügung stehen.

  • Erprobung innovativer Legal Tech-Anwendungen zur Unterstützung von Richterinnen und Richtern bei Massenverfahren: Richterinnen und Richter bei den Landgerichten München I und Ingolstadt testen bereits eine Anwendung zur Unterstützung in erstinstanzlichen Dieselverfahren. Bei dem Oberlandesgericht München soll demnächst die Erprobung einer Software zur Unterstützung in zweitinstanzlichen Dieselverfahren und beim Amtsgericht Erding die Erprobung einer Software zur Unterstützung in Fluggastrechteverfahren beginnen.

  • Grundlagenforschung im Bereich Large Language Models (LLMs): In Zusammenarbeit mit Nordrhein-Westfalen sollen erste Erfahrungen mit generativen Sprachmodellen für die Justiz gesammelt werden – wissenschaftlich begleitet von der Technischen Universität München und der Universität zu Köln.

  • Automatisierte Textanalyse: Bis Ende September 2023 wurde am Landgericht Ingolstadt der Einsatz eines automatisierten Textanalysetools evaluiert. Die Pilotierung zeigte vielversprechende Ergebnisse. Ein Textanalysetool könnte insbesondere für die Serviceeinheiten eine spürbare Entlastung bringen. Aufgrund der vielversprechenden Pilotierungsergebnisse wird derzeit die Durchführung eines Vergabeverfahrens zur Beschaffung im Rahmen einer länderübergreifenden Kooperation geprüft.

  • Bayerns Justizminister Georg Eisenreich hat zudem zahlreiche rechtspolitische Initiativen auf den Weg gebracht. So wurde beispielsweise im Jahr 2022 auf Initiative von Staatsminister Georg Eisenreich der Digitalgipfel des Bundes und der Länder eingerichtet: Beim dritten Digitalgipfel von Bund und Ländern, der im Vorfeld der Justizministerkonferenz im Herbst 2023 stattfand, haben Bund und Länder auf bayerische Initiative beschlossen, eine von Bund und Ländern gemeinsam besetzte Reformkommission einzusetzen. Die Reformkommission wird unter Beteiligung von Vertreterinnen und Vertretern der Richterschaft, der Anwaltschaft, der Wissenschaft, der Verbraucher, der Wirtschaft und des Legal Tech Vorschläge für Zivilprozess der Zukunft erarbeiten. Die Kommission beginnt ihre Arbeit am 1. Juli 2024.

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